Ich will hier kurz meine Meinung schreiben zu zwei sehr unterschiedlichen Büchern von attachment parenting Autorinnen die beide das Wort „Kompass“ im Namen haben.
Nora Imlau: „Mein Familienkompass“
Ich finde dieses Buch sehr, sehr empfehlenswert. Nora Imlau setzt meineserachtens dort an wo die Ratgeber von den Gewünschtestes Wunschkind-Autorinnen aufhören: sie fängt quasi in einer Situation an wo Eltern schon (relativ) bedürfnisorientiert erziehen aber an ihre Grenzen kommen und nicht richtig wissen wieso.
Sie beschreibt (S.30) dass wir alle lernen müssen mit uns selbst genau so geduldig und achtsam umzugehen wie wir es mit dem Kind tun (oder zumindest gerne würden). Man sollte an beiden Sachen arbeiten: an den eventuell zu hohen Ansprüchen UND daran, praktikable Lösungen zu finden.
Besonders wertvoll für dieses Ziel ist sicherlich das Kapitel „Endlich unperfekt“, wo einige Unsicherheiten und Fallstricke in der bedürfnisorientierten Erziehung angesprochen werden: z.B. das Gefühl dass diese Art der Erziehung nicht funktioniere, weil das Kind nicht besonders kooperativ wirkt. Ich hätte das rückblickend sehr gut für mich gefunden vor zwei, drei Jahren, weil ich tatsächlich die Erwartung hatte dass mein Kind durch meine bedürfnisorientierte Erziehung z.B. nur wenige Wutanfälle hat und diese auch schnell vorbei sind – es wäre evtl. alles etwas einfacher gewesen ohne diese Erwartung. Die Quintessenz dieses Teilkapitels ist, falsche Erwartungen an sich und das Kind loszulassen. Aufschlussreich, auch wenn man den Grundtenor schon kennt, sind auch die Teilkapitel „Großwerden ohne Gewalt“ und „Kooperation statt Gehorsam“, weil es darin u.a. um zwei Konzepte geht die häufig falsch verstanden werden, z.B. Kooperation: das bedeutet nicht dass Kinder das mitmachen was die Erwachsenen gerade brauchen oder wollen (S.131f), sondern dass sie z.B. in Kommunikation bleiben. Und Schimpfen: nicht alles Schimpfen im Sinne von verbaler Äußerung von Unzufriedenheit ist ein gewaltvoller Akt (S.118f), also man kann und soll seinen Kindern durchaus mitteilen wenn einen etwas verärgert. Sie nimmt auch Bezug auf das Thema das mich in den Kleinkindjahren besonders beschäftigt hat: das finden und wahren der eigenen Grenzen (S. 103):
„Problematisch wird Freundlichkeit erst, wenn wir darunter verstehen, dass wir unsere eigenen Grenzen nicht wahren dürfen. Also glauben, die freundliche Antwort sei immer ein Ja, und die unfreundliche ein Nein. Das ist ein Irrtum: Wir können freundlich sein, und trotzdem klar in der Kommunikation unserer Bedürfnisse und Grenzen.“
Sie betont auch, dass es keine EINE Art gibt bedürfnisorientiert zu sein (also z.B. mit Langzeitstillen, Familienbett usw), und dass Bedürfnisse und auch wie sie befriedigt werden können höchst individuell sind. Das Teilkapitel „Bedürfnisse als Richtschnur“ ist dabei sehr empfehlenswert, weil es konkrete Beispiele gibt, u.a. auch wie man Wünsche und Bedürfnisse auseinanderhalten kann, und wie man seine eigenen Bedürfnisse erkennen und erfüllen kann. Das darauffolgende Teilkapitel „Liebevolle Wegbegleiter“ geht es darum wie man den Rahmen für die Familie schafft — die Familienregeln.
Dieses Buch ist sehr bestärkend und legt das Hauptaugenmerk wieder auf das große Ganze: (i) dass man das Ganze eben nicht macht um ein bestimmtes Ziel zu erreichen (kürzere Wutanfälle!) sondern weil man bestimmte Werte leben will – Werte wie Respekt vor einander und auch vor sich selbst, (ii) und dass es unterschiedliche Arten gibt diese Werte zu leben und alles nicht so dogmatisch gesehen werden darf.
Nicola Schmidt: „Der Elternkompass“
Nicola Schmidts Buch ist in Kapitel eingeteilt die verschiedene Altersstufen des Kindes wiederspiegeln (Schwangerschaft/Baby, Kleinkind, Schulkind).
Das Buch eignet sich vielleicht für werdende und frischgebackene Eltern die sehr klare Handlungsanweisungen wollen – ich weiß noch dass ich selbst sehr sehr frustriert war als ich ein paar Bücher von Jesper Juul gelesen hatte und das alles so schwammig und unklar war. An dem „gewünschtestes Wunschkind“ Blog fand ich damals schön dass es da sehr klare und präzise Meinungen und Empfehlungen gab, und dieses Buch ist, denke ich, in vielen Aspekten deckungsgleich mit dem Blog was die Meinungen/Empfehlungen angeht. Soweit die positiven Seiten.
Ich fand das Buch trotzdem unerträglich, aus verschiedenen Gründen:
A) Es wird extrem viel Druck aufgebaut. Also in Erziehung an sich liegt eh der Druck, dass man persönlich für das spätere Selbstwertgefühl, Wohlbefinden, und die Bindungsfähigkeit des Kindes verantwortlich ist, vor allem als Mutter. Ich bemerke oft wie viel leichter mein Mann in Erziehungsfragen agieren kann, der diesen Druck nicht (oder nicht so deutlich) spürt.
Das Buch von Nicola Schmidt geht noch weiter, sie behauptet dass wir durch unsere bindungsorientierte Erziehung die Welt retten können (s. Kapitel „Die Welt verändern, indem wir unsere Kinder anders erziehen“)
Die Handlungsanweisungen (und Argumente dafür warum das der einzig richtige Weg ist) sind bekannt: möglichst eingriffsfreie Schwangerschaft und Geburt, Stillen nach Bedarf und Langzeitstillen, Familienbett, Tragen, windelfrei, baby-led weaning, und bei all dem natürlich auch sehr entspannt sein weil Stress dem Kind schadet …. ich habe ehrlich gesagt viel übersprungen in den ersten Kapiteln. Es ist ganz schön erdrückend diese ganzen Sachen am Stück zu lesen statt in einem Blog in Häppchen, ich war schon vom Lesen total erschöpft von den ganzen Anforderungen, obwohl das ja alles schon hinter mir liegt.
Das fiese daran ist dass man (meiner Meinung nach) bei aller Energie die man da rein steckt nie alle diese Dinge schaffen kann. Wir waren die ganze Elternzeit zu zweit, hatten uns diese Dinge alle auch vorgenommen, und haben nur einen Bruchteil so hingekriegt.
Noch fieser finde ich, dass suggeriert wird dass Mutter und Kind das alles ja von Natur aus wollen. Also z.B. ganz am Anfang des Buches wird eine Dichotomie zwischen Mama/Baby und „den Anderen“ aufgemacht – die bösen anderen wollten in Schmidts Fall dass das Kind mit 7 Monaten auch mal wo anders schlafen kann als auf dem Arm der Mutter, Mutter und Kind fühlen aber dass es so richtig ist. Was ist aber wenn man es nicht so fühlt? Wenn man z.B. möchte dass das Kind auch beim Vater im Arm schlafen kann, wenn man im Familienbett nicht gut schläft, wenn man nicht stillen kann, wenn man es einfach nicht schafft die ganzen Stoffwindeln zu waschen? Wie soll man sich des Eindrucks erwehren dass man einfach nicht vehement genug versucht hat? Wie soll man dabei entspannt bleiben, wenn in dem Buch so viele Forschungergebnisse aufgelistet werden dass die Alternative schädlich ist für das Kind (und vielleicht dessen Kinder, und vielleicht für die Welt an sich)?
Also vielleicht bin ich da zu hart mit Nicola Schmidt, irgendwo ist bestimmt ein Disclaimer dass andere Arten zu leben auch ok sind.
B) Schmidt richtet sich an eine andere Lesendenschaft als sie (meiner Meinung nach) hat. Anders als in einem Blog über den man so stolpern kann, kann man – finde ich – bei einem Buch davon ausgehen, dass der Großteil der Lesenden das gekauft hat weil sie schon bindungsorientiert erziehen wollen und nicht so sicher sind wie das geht. Ich denke dass die Argumente unter Umständen so drastisch sind WEIL sie annimmt dass Eltern vorhaben die Kinder schreien zu lassen, oder nach Plan zu stillen statt nach Bedarf, usw.
C) Es stört mich auch dass so eine gewisse Arbeitsfeindlichkeit herrscht – obwohl Schmidt ja selbst berufstätig ist. Es wird plakativ z.B. über arbeiten gehen und „Fremdbetreuung“ gesprochen, als ob man so hyperkapitalistisch sei, z.B. zum Thema Kita: „In Interviews sprechen Psychoanalytiker von innerseelischen Katastrophen, Bildungsökonomen halten den späteren Arbeitsmarkterfolg dagegen.“ Als ob wir alle die wir unsere Kinder in die Kita bringen denken: ach, die Psyche des Kindes ist nicht so wichtig, Hauptsache es hat später auf dem Arbeitsmarkt Erfolg. Ich bringe mein Kind in die Kita weil ich arbeite, und ich arbeite (neben dem Aspekt dass ich meinen Job liebe und mein Mann auch kein Alleinverdienergehalt hat) primär weil ich mich nicht abhängig machen möchte von einem anderen Menschen, mit all den negativen Konsequenzen die das bei einer Scheidung oder Tod oder Erwerbsunfähigkeit usw des Ehepartners usw mit sich ziehen würde.
Zur Rolle des Vaters hab ich nur sehr wenig gefunden – Nicola Schmidt ist aber Ko-Autorin des Buchs „Vater werden“ – bestimmt gibt es da mehr Informationen.
Also im Großen und Ganzen bin ich sehr froh dass ich dieses Buch nicht früher gelesen habe, und empfehle es nicht weiter, oder zumindest nur in Verbindung mit dem „Elternkompass“ 🙂